Wir erwachen auf einem Schiff. Um unseren Hals liegt ein schwerer Ring, magische Energie pulsiert in ihm. Alleine sind wir nicht – ein Magister steht in einiger Entfernung und beobachtet uns. „Na, endlich aufgewacht?” Er erklärt uns, dass wir hier – zugegeben – zwar nicht ganz freiwillig sind, aber dass es keine ungute Reise sein muss, solange wir uns benehmen. Das Halsband hat man uns angelegt, weil es unsere Quellenmagie unterdrückt. Unser Ziel: Fort Joy, die Freudenfeste.
Erstmal gute Miene zum bösen Spiel machend erkunden wir also den Kutter. Mit an Bord sind viele Magister, aber noch mehr Quellenmagier – unfreiwillig, von allem Hab und Gut befreit und durch das Halsband ihrer Quelle beraubt. Das Ziel des Göttlichen Ordens, dem die Magister angehören, ist es, die Quellenmagie von der Welt zu tilgen. Und genau das soll mit uns in der Freudenfeste passieren.
Glücklicherweise müssen wir uns darüber vorerst aber keine großen Gedanken machen. Denn (und wer regelmäßiger meine Rezis liest, dem ist der folgende Satz eventuell schon mal untergekommen): Das Schiff kentert natürlich, wie das mit Schiffen in Videospiel-Intros eben so ist. Ein Angriff von sogenannten Leerenerwachten ist es hier, heraufbeschworen von einer Quellenmagierin, deren Halsband wohl, nun, etwas locker saß. Den Magistern ist es jetzt egal, ob und in welchem Zustand wir die Freudenfeste erreichen, denn die leben nicht mehr. Uns erwischt es auch beinahe, mit letzter Kraft können wir uns aber an einen nahegelegenen Strand retten. Wenig später erfahren wir, dass wir trotzdem auf der Insel der Freudenfeste gelandet sind. Oh boy, was für eine harte Ankunft! Aber es kommt noch härter. VIEL härter...
Unendliche Möglichkeiten
Bevor wir uns in besagtes Intro und das monumentale Abenteuer, das darauf folgt, stürzen können, müssen wir uns allerdings einen Charakter basteln. Schon ganz zu Beginn beim Charaktereditor merken wir schnell: Die Möglichkeiten sind extrem vielseitig! Wir haben zum einen die Auswahl aus sechs vorgefertigten Helden, deren Hintergrundgeschichte mehr oder weniger offensichtlich in die Hauptstory eingesponnen ist. Das sind die sogenannten Legacy-Helden. Wir können aber auch völlig frei einen Charakter basteln. Dabei können wir uns zwischen Menschen, Zwergen, Elfen, Echsenmenschen und der untoten Variante dieser vier Völker entscheiden. Außerdem stehen über zehn Klassen zur Auswahl. Die vorgescripteten Geschichten der Legacy-Helden sind es auf jeden Fall Wert, erlebt zu werden. Aber keine Sorge, wer gerne an einem eigenen Charakter bastelt, kann die Legacy-Helden sehr bald als Verstärkung in den Kampftrupp holen und kommt dann trotzdem in den Genuss der tollen Storys.
Jeder Charakter definiert sich einerseits durch vier veränderbare Eigenschaften, andererseits durch sogenannte Merkmale. Levelbar sind Attribute wie etwa Stärke oder Geschick, Kampffertigkeiten wie den beidhändigen Kampf und Zivilfertigkeiten wie etwa die Kunst zu überreden. Verändern können wir außerdem die Talente unserer bis zu vier spielbaren Figuren. Talente sind einzigartige Fähigkeiten mit sehr vielfältigen Auswirkungen. Ein stinkender Charakter wird etwa weniger oft im Nahkampf angegriffen, erzielt aber beim Handeln auch schlechtere Preise und hat einen Malus auf Überredungsversuche. Merkmale auf der anderen Seite können wir nur ganz am Anfang wählen, danach liegen sie fest. Es kann zwar passieren, dass wir ein Merkmal hinzubekommen oder verlieren, das passiert aber weder geplant noch könnten wir es gezielt rückgängig machen. Merkmale sind Dinge wie „weiblich" oder „Zwerg". Sie bestimmen, wie das Umfeld auf uns reagiert.
Hello, is it me you're looking for?
Und das Umfeld ist in DOS2 unglaublich lebendig! Jeder einzelne NPC, ja, sogar alle Tiere, mit denen man dank des Talents Tierfreund reden kann (was wir euch an dieser Stelle ans Herz legen wollen), hat einen Namen und etwas zu erzählen. Viele Charaktere geben uns Quests, andere können uns bei bestehenden Aufgaben aushelfen, wieder andere wollen handeln oder haben einfach nur einen launigen Spruch auf den Lippen. Und sie alle reagieren sehr differenziert auf den Charakter und unsere Taten. Elfen sind zum Beispiel vielerorts geächtet und haben es im sozialen Gefüge dementsprechend etwas schwerer, Untote können ängstliche Seelen überhaupt schnell verjagen, wenn sie ihr Gesicht nicht mit einer Kapuze oder etwas ähnlichem bedecken. Das sorgt nicht nur für außergewöhnliche Identifikation mit unserer Truppe, sondern auch für eine sehr organisch wirkende Spielwelt.
Überhaupt steckt diese Liebe für's Detail überall in Divinity: Original Sin 2. Wenn wir etwa eine halb zerbrochene Brücke überqueren wollen, an deren Grund Todesnebel wabert (der unsere Charaktere bei Kontakt sofort töten würde), können wir entweder mit einem entsprechenden Zauber darüber fliegen oder uns teleportieren oder die praktischen Teleport-Pyramiden verwenden, so wir sie denn vorher gefunden haben. Oder aber wir folgen ein wenig der Küste und kommen zu einem untoten Fährmann, der behauptet, er könne uns sicher durch den Todesnebel manövrieren. Einen Versuch wert – oder?
Wirklich alles ist auf zig verschiedene Arten lösbar. Eine verschlossene Tür ist im Weg? Die Chancen stehen gut, dass irgendwo ein versteckter Schalter ist. Oder du hast einen Dietrich dabei und bist ganz brauchbar im Schloss knacken. Wer keinen Dietrich bei der Hand hat, aber dafür einen Untoten, kann die Skelettfinger kurzerhand umfunktionieren. Oder man teleportiert sich über Umwege auf die andere Seite. Vielleicht weiß auch die Katze des Haushälters, wo der Schlüssel versteckt ist? Es macht unheimlich viel Spaß, die verschiedenen Optionen auszuloten.
Der Effekt wird noch mal verstärkt, weil wir nach Abschluss des ersten Aktes unbegrenzt die Möglichkeit haben, unsere Charaktere umzuskillen. Und zwar völlig beliebig, ohne irgendeinen Nachteil! Ein Zauberstab schwingender Feuermagier ist also immer nur ein paar Klicks von einem schwer gepanzerten Nahkämpfer mit Zweihandaxt entfernt. Dadurch ist DOS2 ein unglaublich detailverliebter, umfangreicher und vielfältiger Spielplatz.
Selbes gilt übrigens auch für die rundenbasierten Kämpfe. Aus mehr als zehn Kampfschulen können wir eine wilde Mixtur an vernichtenden Fertigkeiten erlernen. Um das System zu meistern, sollten wir dann auch noch die Eigenschaften der Kampfplätze miteinbeziehen. Schießen wir etwa mit einem Feuerzauber auf eine Wasserfläche, verwandelt sich diese in Dampf der widerum die Sicht der sich darin befindlichen Charaktere einschränkt. Das kann je nach Situation schon mal ein besserer Zug sein als ein direkter Angriff.
Das Kampfsystem als solches ist klassisch: Pro Spielzug stehen unseren Charakteren eine gewisse Anzahl von Aktionspunkten zur Verfügung, für die wir verschiedene Dinge tun können. Bewegen, zaubern, angreifen, tarnen, all das wird über Aktionspunkte geregelt. Trotzdem verbirgt sich auch hier eine große Vielfalt. Die Kampfschulen und -umgebungen und die verschiedenen Gegner mit all ihren Eigenheiten brachten uns mehr als einmal ins Schwitzen!
Rivellon, wie bist du schön
So geschieht es nicht selten, dass wir auf dem Weg zur nächsten Hauptquest „kurz abgelenkt werden” und zwanzig Stunden später zwar immer noch nicht wissen, wie wir unser Quellenhalsband loswerden, aber dafür drei Jungfrauen in Nöten geholfen, einen Nekromantenzirkel zerschlagen und die Frischfischversorgung im nahegelegenen Dorf wiederhergestellt haben.
Das ist nicht zuletzt auch deshalb schön, weil die Spielwelt Rivellon toll designt ist. Im Laufe der Story dürfen wir vier große Schauplätze und einige kleinere erforschen. Abwechslung ist hier auf jeden Fall geboten, und das über die ganze stolze Spielzeit von gut 100 bis 120 Stunden je nach Zielstrebigkeit. Auch die Geschichte entwickelt sich durchgehend spannend. Einige unserer Entscheidungen haben auch echte Konsequenzen – verschiedene Spielenden inklusive.
Noch dazu wurde bei allem, was Sound ist, hervorragend gearbeitet: Der Soundtrack ist toll, das Main Theme klingelt uns jetzt noch in den Ohren. Besonders großes Kino sind aber die Sprecher. Absolut JEDER Charakter ist vertont, und das auch ziemlich gut! Sogar einen Erzähler hat man eingebaut, der gekonnt sowohl die dramatischen als auch die zahlreichen zynisch-humoristischen Geschichten rüberbringt.
Achillesferse
Ein perfektes Spiel also, könnte man meinen. Oder? Nicht ganz, leider. Obwohl die Designentscheidungen stimmig sind, die Story genial präsentiert und das Gameplay unvergleichlich abwechslungsreich ist, krankt es an einer Stelle dann doch mehr oder weniger gewaltig: Der technischen Stabilität.
Immer wieder starrten wir viel zu lange auf den Ladescreen. Auch mit recht wilden Rucklern hatten wir zu kämpfen. Und schließlich und endlich stürzte das Spiel mehrfach einfach ab. Wir erinnern uns hier an XCOM 2 zurück: Ein wirklich gutes Spiel, das auf dem PC einwandfrei läuft, aber dann leider bei der Portierung verhunzt wird. Die Schlussbewertung bleibt trotzdem ziemlich gut, ganz so gravierend wie bei XCOM ist es hier auch nicht. Trotzdem sind die technischen Probleme wirklich schade. Ansonsten hätten wir Divinity: Original Sin 2 ohne Zögern mit der Höchstwertung nach Hause geschickt.
Fazit
Divinity: Original Sin 2 ist ein riesiger Spielplatz. Nur eben einer für große Kinder – ziemlich große Kinder, wenn man die Spieldauer, die Komplexität des Spiels und den Schwierigkeitsgrad der rundenbasierten Kämpfe bedenkt. Eine gewisse Grundmotivation und Frustresistenz sollte man schon mitbringen, wenn man siegreich durch Rivellon pirschen will.
Dann belohnt DOS 2 aber mit schier endlosen Möglichkeiten! Jede Quest und jede Spielpassage kann man auf dutzende Arten lösen, die Charakterklassen und Fähigkeiten sind unglaublich vielseitig und abwechslungsreich und durch unbegrenzte Re-Specs ist das Ganze auch noch ein Traum für Tüftler und Experimentierfreudige. Dazu ist die Vertonung in Form von Musik und Synchro (alle Charaktere sind eingesprochen, es gibt sogar einen Erzähler) absolut erstklassig und die Erzählung spannend und facettenreich.
Redaktionelle Wertung:
Spieleranzahl: 1 bis 2
Preis: 60 Euro
Erscheinungsjahr: 2017
Entwickler: Larian Studios
Publisher: Bandai Namco Entertainment
Erschienen für: PC, PlayStation 4, Xbox One
Getestetes System:
PlayStation 4
Genre: Action-Rollenspiel
Ähnliche Spiele:
Anzeige Derzeit findest Du auf spieletest.at 6722 Gesellschafts- und 1644 Videospielrezensionen sowie 2230 Berichte.