Jonathan Reid ist ein gefeierter Arzt. Er hat eine revolutionäre Technik zur Bluttransfusion entdeckt, die Tausenden das Leben retten kann. Doch auch eine solche Koryphäe kommt nicht umhin, als britischer Bürger im ersten Weltkrieg zu dienen. Im Jahr 1918 schafft er es zurück, erliegt aber bald der Spanischen Grippe. Zumindest scheinbar. Aber eben nicht so ganz, denn ein mächtiges Wesen sorgt dafür, dass der berühmte Mediziner nicht tot bleibt.
So beginnen wir das Spiel schwach und verwirrt, aus einer Pestgrube mit zahllosen Leichen kriechend. Der Bildschirm ist grau, nur ein menschlicher Umriss leuchtet in der Ferne blutrot. Instinktiv zu dem Schemen getrieben umarmen wir die Person, die uns offenbar kennt und mehr als erfreut ist, uns doch noch unter den Lebenden wandeln zu sehen. Doch das Wiedersehen währt nur kurz, denn der Durst nach Blut zwingt uns bald dazu, ihr unsere Zähne in den Hals zu rammen – nur um direkt nach dem Mord festzustellen, dass wir unsere eigene Schwester gerichtet haben. Jonathan ist am Boden zerstört. Doch Zeit zum Trauern bleibt kaum. Aufgeregte Schreie reißen uns aus der Kontemplation, nur Sekunden danach schlagen Kugeln um uns herum ein.
Am Boden zerstört retten wir uns wenig später – gerade noch, bevor uns die Sonne so richtig auf die Pelle rückt – in ein Versteck, wo wir praktischerweise einen noch funktionstüchtigen Revolver finden. Den könnte man zur Verteidigung nutzen, doch nach allem, was passiert ist, hat Jonathan andere Pläne: Mit einer entschlossenen Bewegung setzt er den Lauf auf sein Herz – und drückt ab.
Wenigstens kein Sarg
Doch auch dieses Mal bleibt uns die ewige Erlösung erspart. Und da wir somit sowieso keinen anderen Ausweg haben, machen wir uns ab sofort Nacht für Nacht auf die Suche nach Antworten: Was ist mit uns passiert? Wer hat das zu verantworten? Und wie können wir es rückgängig machen?
Diese Suche führt uns glücklicherweise recht bald zu Dr. Edgar Swansea. Das ist aus mehreren Gründen ziemlich praktisch: Erstens scheint der gute Doktor sich mit unserem neuen Zustand recht gut auszukennen, zweitens ist er uns trotzdem freundlich gesonnen und drittens ist der Mann selber Arzt. Er betreibt das Pembroke Hospital und bietet uns prompt an, dort als Chirurg zu arbeiten. Das Hospital und unser Büro dort werden unsere neue Vampir-Höhle. Uns so ist das untypische, aber gerade deswegen ziemlich coole Setting komplett: Jonathan Reid, gefeierter Arzt und praktizierender Chirurg, wird zum Vampir. Er hasst nichts mehr, als Unschuldige umzulegen, wird beim Geruch und Anblick von Blut aber schwach. Nur verlangt sein Job das von ihm.
Zurück von den Toten
Das Gameplay von Vampyr ist dabei weniger neuartig. Während wir im Laufe der Story einige andere Vampire treffen, das Geheimnis um die Spanische Grippe in London lüften und sogar unserem Schöpfer gegenüber stehen, machen wir dabei vor allem eines: Der sogenannten Wache von Prywen ordentlich Respektschellen verteilen. Zu diesem Zweck können wir stets zwei Waffensets ausrüsten. Wir haben die Wahl zwischen schnellen Einhandwaffen, die wir noch mit einer Offhand-Unterstützung wie z.B. einer ordentliche Wumme verstärken können, und behäbigeren, dafür aber mächtigeren Zweihand-Geräten wie Stabkeulen. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen ist die Schlaggeschwindigkeit. Darüber hinaus können wir dank unserer vampirischen Natur auch mit einem beherzten Biss ordentlich Schaden anrichten. Und wenn wir im Level steigen, lassen sich diverse Fähigkeiten wie Schattenbomben oder Blutspeere freischalten.
Aber genau an diesem Punkt haben sich die Entwickler ordentlich was einfallen lassen. Level aufzusteigen ist nicht grundsätzlich schwierig. Dafür müssen wir lediglich gesammelte Erfahrungspunkte in Jonathan investieren - wie in etlichen anderen Spielen auch. Das Ding ist: Die größte Erfahrungsquelle, und das mit sehr weitem Abstand, sind völlig unbescholtene Bürger, die die vier Open World Distrikte von London bewohnen. Jeder Bezirk hat 16 Bürger mit ihren eigenen Geheimnissen und Geschichten. Und ihr Blut ist wertvoll. Nur will Jonathan ja gar nicht töten, wenn er nicht muss. Und beißen wir dann doch mal beherzt zu, haben wir wegen der letzten Worte des armen Opfers sofort ein schlechtes Gewissen. Nebenbei kann ein Bezirk, wenn wir es gar zu bunt treiben, auch komplett in Chaos verfallen. Wenn das passiert, sterben alle ansässigen Bewohner. Damit ist dann auch unsere Möglichkeit dahin, Dinge von den örtlichen Händlern zu erstehen. Im Großen und Ganzen wollen wir also möglichst verhindern, dass Menschen sterben. Aber die Erfahrung! Um das Ganze mal in Perspektive zu setzen: Ein beliebiger getöteter Standard-Gegner bringt immer 10 Erfahrung (abgesehen von namhaften Gegnern). Saugen wir einen Bürger aus, kommen wir damit an bis zu 6000 Erfahrungspunkte auf einen Schlag! Das ist noch mehr relevant, als dass Vampyr keinen frei bestimmbaren Schwierigkeitsgrad hat. Das Spiel wird also immer schwerer, wenn wir moralisch spielen.
Alternativ können wir die Bewohner Londons nicht nur gnädig am Leben lassen, sondern sie auch unterstützen. Viele von ihnen haben Side Quests für uns. Vor allen Dingen aber werden sie immer wieder krank, schließlich sind die Zeiten hart. Als Arzt haben wir die Möglichkeit, Medizin zu craften und die Bürgerschaft so von ihren Leiden zu befreien. Auch das bringt etwas Erfahrung, wenn auch weitaus weniger, als der gewaltsame Weg. Naja, zumindest gibt's am Ende des Spiels eine Gold-Trophäe, wenn wir keinen einzigen Unschuldigen auf dem Gewissen haben.
Nur die Spitze des Eisbergs
Diese Idee mit den Erfahrungspunkten gefällt uns unglaublich gut. Sie ist neu, passt perfekt ins Setting und lässt uns den inneren Konflikt von Jonathan nachempfinden. Leider trifft das auf andere Spielelemente weniger zu. Sowohl die Hauptgeschichte als auch viele NPCs, auf die wir während unserer Reise treffen, sind grundsätzlich interessant designt. Leider hatten wir beim Spielen aber oft das Gefühl, dass Entscheidungen recht oberflächlich abgehandelt werden. Ob wir beispielsweise am Ende einer Side Quest in unserem Krankenhaus den jungen, experimentierfreudigen Arzt oder den konservativen, altgedienten Veteran bei einer Operation ans Messer lassen, ist uns weitestgehend egal. Dafür waren die wenigen Gesprächsfetzen mit dem zu Behandelnden zu kurz, auch sind die Auswirkungen auf das weitere Spiel zu wenig relevant oder überhaupt nicht erkennbar. Das Grundmaterial wäre da, die Charaktere haben oft wirklich spannende Geschichten. Aber in der Umsetzung bleibt es dann zu oberflächlich.
Auch grafisch ist Vampyr ein Stück weit inkonsequent. Die ganze Atmosphäre von London kommt grau, schwer und melancholisch daher, was uns super gefällt. Dafür ist das Welten- und Leveldesign eher eintönig. Und dass düstere, nebelige Welten auch abwechslungsreich sein können, wissen wir spätestens seit Dark Souls. Da eine Schnellreisefunktion leider fehlt, müssen wir auch immer wieder recht ordentliche Distanzen durch das Grau zurücklegen. Riesig ist die Open World zwar nicht, aber auch nicht winzig.
Die grafische Leistung ist nicht mehr ganz zeitgemäß, auch hier machen wir daher kleine Abstriche. Wir konnten uns zwar über ein Spielerlebenis gänzlich ohne Bugs, Clipping-Fehler und ähnliche Dinge freuen, mussten dafür aber mit mittelmäßigen Shadings und teilweise hölzernen Animationen leben. Auch die musikalische Untermalung ist nur halb gut. Die einzelnen Kompositionen gefallen durchwegs, aber ein paar mehr hätten's sein dürfen. Dafür ist die Sprecherleistung so richtig gut gelungen.
Fazit
Redaktionelle Wertung:
Spieleranzahl: 1
Preis: 50 Euro
Erscheinungsjahr: 2018
Entwickler: Dontnod Entertainment
Publisher: Focus Home Interactive
Erschienen für: PC, PlayStation 4, Xbox One
Getestetes System:
PlayStation 4
Genre: Action-Rollenspiel
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