Mit Victoria II wurde von dem schwedischen Entwickler Paradox Interactive ein Strategieflaggschiff zu Wasser gelassen. Hier darf man noch Geschichte schreiben; und das gleich mit epochalem Ausmaß. Der Titel ist dabei clever gewählt. Ist zur Zeit noch eine englische Monarchin im Amt die keine Anstalten macht den Thron dem Prinzen von Wales zu überlassen, hat man sich zur Namensgebung einer schon dahingeschiedene Dame bedient, die in ihrer unvorstellbar langen Amtszeit von 63 Jahren als Königin eine komplette Epoche prägte - das Viktorianische Zeitalter - und zweitweise nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung herrschte: Königin Victoria von England.
Es ist ihr Erbe, das man als Herrscher einer unter 200 implementierten frei wählbaren Nationen antreten soll.
Ein Wahnsinnsspiel, das so vielschichtig, komplex und voller Möglichkeiten ist, sieht man nicht alle Tage. Man könnte meinen, ich hätte meine Abschlusswertung mit diesem Satz schon vorweg genommen, aber „der Wahnsinn“ ist bekanntlich verschieden zu interpretieren.
Story
Im Wesentlichen hat Victoria 2 keine Geschichte, Kampagne oder ähnliches. Es gibt daher keine Umsetzung des geschichtlichen Werdegangs einer Nation durch ein stufenweise abzuschließendes Missionsschema. Zwar sollen die laut Paradox als Patch nachgeliefert werden, gefunden hab ich allerdings nichts. Vielleicht vermag das mittlerweile erschienene Addon Victoria 2 : A House Divided die Lücke zu schließen.
Man wird in die weltweite Szenerie des 19. Jahrhunderts entlassen und darf sich zu Beginn auf die Seite jeder Nation schlagen, um ihre Geschicke auf diverse Arten zu lenken. Man beginnt immer im Jänner des Jahres 1836 und endet ebenfalls immer im Dezember des Jahres 1937. Diese klare Zeitspanne lässt erahnen was auf einen zukommt: Industrialisierung, Kolonialpolitik und der damit einhergehende Einsatz von Eisenbahnen und Dampfmaschinen und natürlich der 1. Weltkrieg. Dabei scheint wirklich alles möglich: Österreich-Ungarn als kommunistischer Welteroberer, kein Thema. Die Südstaaten zum Sieger des Bürgerkriegs küren, wenn man Spaß dran hat. Oder aber den Vatikanstaat als Unterjocher von Nationen durch diplomatische Würgeschellen arrangieren, auch das liegt im Rahmen des Möglichen.
Spielprinzip
Schnell erklärt: die totale Macht. Dahin zu kommen könnte schwieriger nicht sein. Als totalitärer Monarch muss man sich um alles kümmern, aber um wirklich alles. Handel, inländische Produktion, Finanzen, Militär, Forschung und Diplomatie, und ja ich hab nicht alles aufgezählt, das sind nur die wichtigsten Dinge… ein echter Strategiebrocken eben.
Die Entscheidungen die man trifft haben immer weitreichende Folgen, die einem zunächst einmal überhaupt nicht klar sind und wenn man sie dann realisiert hat, ists oft schon zu spät. Zum Beispiel die geliebte Sanierung der heimischen Staatskasse. Drehen wir die Steuern der Oberschicht in der Dreiklassen-Gesellschaft nach oben, macht unsere Bilanz kurzzeitig grüne Freudensprünge. Allerdings wandern die Herrschaften wie im realen Leben in Steueroasen ab, also in das Umland, und investieren dort in neue Fabriken und Infrastruktur. Dabei hätten wir das doch auch bei uns so gut gebrauchen können…
Das Spiel läuft in Echtzeit ab, allerdings ist die Spielgeschwindigkeit in fünf Stufen regulierbar oder sogar ganz zu pausieren. Das ist auch zwingend erforderlich, andernfalls kommt man zeitweise mit der Administration gar nicht hinterher. Gespielt wird dann neben der Weltkarte auf Menüseiten der verschiedenen Aufgabenbereiche, die uns mit Statistiken, zusätzlichen Reitern und potentiellen Auftragsmöglichkeiten nur so erschlagen. Dass man dabei alles am besten gleichzeitig beachten muss, hatte ich glaube ich schon mal angedeutet!? So kann es dazu führen, dass unser Versäumnis im Nahrungsmittelsektor unsere Soldaten im Kriegsfall verhungert lässt. Bei diesem Spiel kommt eben alles zusammen.
Technik
Da zieht Paradox nun wirklich nicht alle Register. Das Spiel findet gefühlt zu 98,2% in einer Art Menü statt, und wenn wir dann doch mal auf die Weltkarte entlassen werden um Krieg zu führen, werden wir mit einer durchschnittlichen Draufsicht belohnt, auf der sich durchschnittliche Soldaten- und Schiffsmodellemit sehr mittelmäßigen Soundeffekten kurz über den Haufen schießen.
Die Menüs der einzelnen Aufgabengebiete bemühen sich um Übersichtlichkeit, sofern das überhaupt möglich ist. Hat man allerdings das Spiel hochauflösend gestartet, empfiehlt es sich stets mit seiner Lesebrille zu spielen. Im Handelsmenü kommt dann beim Anklicken der winzigen Waren-Icons noch das benötigte Maß Feingefühl in Sachen Auge-Hand-Koordination zum Tragen.
Alles reine Gewöhnungssache, aber ich muss einräumen, ich hätte keinen Vorschlag es bei der gegebenen Komplexität von Anfang an einfacher zu machen.