Ja, das Leben ist tatsächlich manchmal etwas seltsam. Wobei „seltsam“ noch ein recht mildes Vokabel für jemanden sein dürfte, der plötzlich unverhofft herausfindet, dass er die Macht besitzt die Zeit zurückzudrehen…
Achtung: Spiel ist derzeit nur auf Englisch erhältlich!
Ungeduld in Serie
Der Streamingdienst Netflix hat es verstanden. Die Zuseher haben keine Lust darauf, nach einer Stunde mit ihrer Lieblingsserie eine weitere Woche warten zu müssen, um zu erfahren, wie es weitergeht. Nein, Netflix veröffentlicht seine Serien nicht folgenweise – es veröffentlicht sie staffelweise.
Die Videospielbranche hat das Folgen-Format gerade für sich entdeckt. Die Vorteile für die Studios: Die Veröffentlichung der ersten Folge kann die Fertigstellung des weiteren Spiels finanzieren, die Entwickler können auf das Feedback der Spieler eingehen und wenn man merkt, dass ein Spiel gar nicht ankommt, kann man ein größeres finanzielles Fiasko verhindern und die Entwicklung vorzeitig einstellen. Das Ganze ist jedoch mit erheblichen Nachteilen für die Spieler verbunden. So kaufen sie mit einem Season-Pass praktisch die Katze im Sack und warten nicht eine Woche, sondern oft mehrere Monate auf die nächste Folge ihres Spiels. Und das nach gerade einmal zwei bis drei Stunden Spielzeit. So auch im Falle von
Life Is Strange.
Back in Time
Die 18-jährige Max kehrt nach über vier Jahren in Seattle wieder in ihre Heimatstadt Arcadia Bay zurück, um dort auf der Blackwell Academy ihren Lebenstraum zu verwirklichen – die Kunst der Fotografie zu studieren. Sie ist vielleicht nicht unbedingt ein klassisches Mauerblümchen, scheut also nicht den Kontakt zu ihren Mitschülern, vom Typ her ist sie aber schon eher die Einzelgängerin.
Ihre beste Freundin aus Kindertagen, Chloe, studiert wie sie weiß ebenfalls an dieser renommierten Privatschule. Allerdings ist Max ihr noch nicht über den Weg gelaufen, und da sie ein schlechtes Gewissen plagt, weil sie sich nach ihrem Umzug die letzten fünf Jahre nicht bei Chloe gemeldet hat, beschließt sie vorerst auch keine großen Anstrengungen in diese Richtung zu unternehmen.
Im Unterricht ihres absoluten Lieblingslehrers wird Max dann eines Tages plötzlich von einer Vision geplagt. Ein Tornado rast auf Arcadia Bay zu und droht das Städtchen zu zerstören. Etwas entgeistert verlässt sie nach der Unterrichtsstunde den Klassenraum und zieht sich auf die Mädchentoilette zurück, um dort ein wenig Zeit für sich zu haben.
Doch sie bleibt dort nicht lange allein. Unbemerkt beobachtet Max wie ein aufgelöster, komplett verunsicherter Junge und kurze Zeit später ein Mädchen mit blauen Haaren ebenfalls die Räumlichkeit betreten. Nach einem heftigen Streitgespräch über Drogen und Schweigegeld eskaliert die Situation, der Junge zieht eine Waffe und nachdem sich ein Schuss aus dieser löst, bricht das Mädchen vor Max‘ Augen zusammen. Sie schreit auf, hebt ihre Hände in eine abwehrende Haltung. Plötzlich scheint die Zeit einzufrieren, rückwärts zu laufen. Und Max erwacht wieder im Klassenzimmer.
Déjà-vu
Alles nur ein Traum? Das kann nicht sein. Alles geschieht genauso wie zuvor. Max kann eine Frage des Klassenlehrers nicht beantworten. Stattdessen kann die unsympathische Victoria glänzen.
Nun ist die Zeit für Max gekommen, zu überprüfen, ob sie verrückt geworden ist oder tatsächlich die Fähigkeit besitzt, am Rad der Zeit zu drehen. Sie hebt wieder die Hand, spult die Zeit zurück. Gibt Victorias zuvor gehörte Antwort selbst. Es funktioniert also doch.
Noch einige Male erprobt sie ihre Fähigkeit, um ihr Wissen aus der Zukunft darauf zu verwenden, beim Lehrer gut dazustehen, ehe sie sich auf den Weg macht, dem Mädchen auf der Toilette das Leben zu retten.
Abgesehen von diesem einschlägigen Erlebnis begleiten wir Max, wie sie sich durch den typischen, vom Heranwachsen geplagten Teenageralltag an einem College herumschlägt. Neben der Suche nach dem ultimativen Motiv für einen anstehenden Fotowettbewerb und dem Kampf gegen omnipräsente Selbstzweifel versucht Max hinter das geheimnisvolle Verschwinden einer ehemaligen Schülerin dieser Schule, der 19-jährigen Rachel Amber, zu kommen.
Indie Vergangenheit
Trotz dieser vermeintlich spannenden Prämisse geht es in
Life Is Strange sehr gemächlich zu. Unsere Hauptaufgabe besteht darin unsere Umgebung zu erkunden und Gespräche zu führen. Und ganz im Sinne eines Telltale-Adventures müssen wir hier Entscheidungen treffen, die den weiteren Verlauf der Story entscheidend beeinflussen sollen. Inwieweit es das tatsächlich tut, wird sich dann wohl in den weiteren Episoden zeigen. Anders als beispielsweise bei
The Wolf Among Us - Episode 1 werden wir zu keiner schnellen Entscheidung gezwungen. So können wir uns in aller Ruhe über die möglichen Konsequenzen klar werden. Diese müssen wir jedoch nicht einmal abschätzen. Wir probieren einfach eine Möglichkeit aus, schauen was passiert, drehen die Zeit zurück und erproben den Ausgang der anderen Möglichkeit. Sollte uns diese nicht zusagen: Zeit zurückdrehen und zur ersten Entscheidung zurückkehren. Natürlich werden wir uns auf diese Art nur der unmittelbaren Auswirkungen gewahr. Der möglicherweise weitreichendere Einfluss auf die Handlung wird sich erst später zeigen. Und klarerweise ist die Zeitspanne, die wir zurückspulen können, begrenzt.
Im Gegensatz zur
Prince of Persia-Serie drehen wir die Zeit außerdem für alle anderen, nicht jedoch für uns selbst zurück. So bleibt Max an derselben Stelle stehen, während sich alles um uns verändert. Ausnahme ist hier die anfängliche Sequenz auf der Toilette. Außerdem behalten wir unsere Erinnerungen.
Die generelle Entspanntheit in
Life Is Strange ist einerseits sehr erfrischend, andererseits hätte der eine oder andere Spannungsbogen (abgesehen vom Anfang und vom Ende) dem Spiel womöglich nicht unbedingt geschadet. Noch dazu, wo die Handlung diese Sequenzen eigentlich ohnehin hergibt. Stattdessen dominiert hier ein unaufgeregtes und entschleunigtes „Indie-Gefühl“, das sowohl visuell über die pastellfarbenen Bilder und den skizzenhaften Stil des Interfaces transportiert wird, als auch über den Soundtrack, der fast schon penetrant auch dem Letzten, der es noch nicht verstanden hat, einprügeln will, dass Zach Braffs "Garden State" gegen dieses Spiel der reinste Mainstreamstreifen ist.
Nicht falsch verstehen: Der Stil ist absolut stimmig, überzeugend und gefällt uns ausgesprochen gut. Und vielleicht ist dies ja auch nur die inszenatorische Ruhe vor dem (nicht nur sprichwörtlichen) Sturm.