Ins Dunkel
In Perdition's Mouth schlüpfen die Spielenden in die Rolle einer Heldengruppe, die sich einen Weg durch ziemlich ungastliche Kerkerlevel bahnen muss. Denn im Mund des Verderbens, das heißt Perdition's Mouth auf Deutsch, treibt ein Kult sein Unwesen. Er will einen mächtigen Dämon aus dem Abyssal Rift, also etwa dem „abgründigen” Riss beschwören – das darf auf keinen Fall zugelassen werden!
Der geneigte Leser weiß sofort: „Alles klar, Dungeoncrawling.” Richtig! Ein Genre also, das im Brettspiele-Sektor alles andere als neu ist. Allerdings haben wir es hier nicht mit altbackenen Konzepten und verjährten Spielmechaniken zu tun. Nein, Perdition's Mouth bietet gleich eine Fülle an neuen Ideen, die das Spiel wirklich einzigartig machen!
Allerdings bietet es auch eine Fülle an Regeln. Deshalb ein Wort zum Einstieg, bevor wir in das Spielgeschehen eintauchen: Wer in die Untiefen des Abyssal Rift steigen möchte, muss sich erst mal durch die Untiefen eines über 40 Seiten starken Regelbuchs arbeiten. Das ist wirklich eine ganze Menge. Zwar sind die Regeln gut strukturiert und klar dargestellt, trotzdem ist die erste Partie heftig. Und das nicht nur wegen der schieren Regelfülle. Genauso ins Gewicht fällt, dass wir die meisten Spielelemente auch dann nicht ableiten können, wenn wir einmal das Grundkonzept verstanden haben. Fast jeder Abschnitt der Regel bringt eigene Besonderheiten mit sich, es wirkt nicht immer alles wie aus einem Guss. Es passiert also ganz, ganz selten (zu selten!), dass wir uns denken „Gut, wenn A so funktioniert, wird B wohl so sein.” Nope, nope, nope, B funktioniert ganz anders, ebenso C und alle anderen. Das ist kein Grund, ein Spiel vorzeitig zur Seite zu legen oder als schlecht abzustempeln, aber, in aller Deutlichkeit: Die Einstiegshürde ist gigantisch! Außerdem müssen wirklich gute Englischkenntnisse mitgenommen werden, sonst wird es happig.
So, jetzt, wo das geklärt ist, können wir uns also dem Spiel widmen. Aus bereits dargelegten Gründen werden wir uns dabei möglichst kurz fassen, ein kompletter Abriss würde hier niemandem weiterhelfen.
Mit allem was geht
Perdition's Mouth beinhaltet neben fantastischen Miniaturen und generell toll designten Spielmaterial auch eine Schachtel mit Abenteuern. Diese Abenteuer entsprechen abgesteckten Missionen, die wir erfüllen bzw. bestehen müssen. Das können wir entweder in Form einer Kampagne machen, in der wir etwa bestimmte Fähigkeiten oder auch Verletzungen von einer Mission in die nächste mitnehmen, oder wir spielen die Abenteuer als „One Shot”, also für sich stehend. Die Regeln sind für beide Varianten dieselben.
Das Spiel läuft in Zügen und Phasen ab – in jedem Zug gibt es eine Helden- und eine Monsterphase. Die Helden sind in der Heldenphase nicht an eine fixe Reihenfolge gebunden, wir können auch jeden Zug auf's Neue die Reihenfolge ändern. Beginnt ein Held seinen Zug, muss er ihn aber beenden, bevor der nächste dran sein kann.
Für jede Mission befindet sich in der riesigen Schachtel ein eigener Spielplan. Aufbau und genaue Siegbedingungen sind auf einer Karte festgehalten. Das Spielfeld als solches ist in quadratische Felder unterteilt. Ein denkbar einfaches Missionsbeispiel: Gelange von deinem Startpunkt X zur Treppe in die nächste Ebene Y. Easy.
Was macht unseren Helden eigentlich aus? Helden unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Es gibt Krieger, Priester und Magier, die mit Fern- oder Nahkampfangriffen kämpfen. Jeder Held hat ein eigenes Handkarten-Limit, ein entsprechendes Kartendeck und einzigartige Spezialfähigkeiten. Auch die Anzahl der Gegenstände, die wir ausrüsten können, ist unterschiedlich.
Des Weiteren wird jeder Held durch fünf Eigenschaften definiert. Die Anzahl der Aktionspunkte hat Einfluss auf unsere Gestaltungsmöglichkeiten im Spiel, außerdem gibt es noch Angriffsreichweite, Angriff, Verteidigung und Leben. Den Lebenspunkten kommt dabei eine besondere Rolle zu: Sinken sie, schwächt das auch alle anderen Werte. Sieht man die Eigenschaften auf dem Heldenbogen als Tabelle, sind immer die Werte jener Zeile aktuell, in der auch unsere momentanen Lebenspunkte verzeichnet sind. Das ist einer der besonderen Kniffe von Perdition's Mouth.
Was machen wir mit unserem Recken nun? Um zu verstehen, wie eine Runde angelegt ist, müssen wir zunächst den Schicksalsstein erklären – das Herzstück des Spiels. Der Schicksalsstein ist eine Scheibe, die in acht Segmente unterteilt ist. Die Segmente stehen für die verschiedenen Aktionen, in jedem Segment befinden sich ein oder mehrere Löcher. Ein Segment löst zum Beispiel die Aktion „Angriff” aus und hat drei Löcher, eine andere lässt den Charakter sprinten und hat zwei Löcher.
Jeder Spieler hat einen Marker, der in besagte Löcher passt. Stecken wir einen Marker in eines der beiden Löcher bei „Sprint”, wird der entsprechende Charakter sprinten. Der Haken: Wir können den Marker nicht beliebig irgendwo hin stecken.
Ausschlaggebend sind hier die Aktionspunkte. Für jeden Aktionspunkt können wir den Heldenmarker um ein Loch im Uhrzeigersinn bewegen. Es ist verboten, die gleiche Aktion wie im letzten Zug auszuführen, man muss den Marker also insgesamt zumindest in das angrenzende Segment bewegen. Außerdem mag es sein, dass alle Löcher eines bestimmten Segments schon besetzt sind. In diesem Fall können wir die entsprechende Aktion nicht ausführen. Generell werden bereits besetzte Löcher übersprungen, dies kostet keine Aktionspunkte.
Die Aktionen selbst sind dabei meistens nicht so simpel aufgebaut, wie man erwarten würde. Im einfachsten Fall, zum Beispiel bei der Aktion „Angriff”, ziehen wir zuerst eine Karte vom Heldendeck und führen dann den Angriff aus, den wir noch mit Aktionspunkten, die wir für die Aktionswahl NICHT ausgegeben haben, verstärken können. Beim „Ansturm” bewegen wir uns zuerst und führen danach einen Angriff aus, den wir hier allerdings nicht mit übrig gebliebenen Aktionspunkten stärken können. Es ist immer erlaubt, einen oder mehrere Schritte der Aktion auszulassen, die Reihenfolge kann aber nicht geändert werden. (Sinnvoll ist das Auslassen meistens ohnehin nicht, die Abenteuer sind schwer genug.) So ist jede Aktion wirklich einzigartig. Die Planung eines Zuges ist dementsprechend extrem komplex: Welcher Held führt welche Aktion aus? Welcher zieht zuerst? Welche Löcher sind danach besetzt und erlauben es so einem anderen Helden möglicherweise auf dem Schicksalsstein noch weiterzuziehen? Der Mechanismus um den Schicksalsstein ist anfangs gewöhnungsbedürftig, aber genial!
Noch mehr Abwechslung in die Heldenzüge bringen die Handkarten. Auch hier können wir eine Karte sehr häufig für verschiedene Dinge verwenden. Grundsätzlich lassen sich die Möglichkeiten, die uns die Handkarten bringen, in Spezialfähigkeiten und Verstärkungen unterteilen. Spezialfähigkeiten können alles mögliche sein, die Verstärkung erlaubt es uns, eine oder mehrere genau spezifizierte AktionsSCHRITTE zu verstärken (z.B. könnten wir bei der Aktion „Angriff” die Attacke als solches verstärken, aber nicht mehr Karten ziehen). In vielen Fällen lässt sich ein und dieselbe Karte auf beide Arten einsetzen, was uns die Qual der Wahl lässt – verstärken oder Spezialfähigkeit? Die Verstärkung lässt sich übrigens auch auf Mitspieler anwenden, das heißt dann „Unterstützung”. Dafür fällt sie zwar etwas schwächer aus, trotzdem kann diese Aktion den Unterschied zwischen einem gelungenen Zug und dem Tod eines Helden machen. Zusätzlich wird das alles noch dadurch erschwert, dass eine einmal ausgespielte Karte bis auf weiteres weg ist. Nur indem wir einen ganzen Zug für die Aktion „Rasten” aufwenden, erhalten wir unser Arsenal zurück.
Unsere Feinde schauen aber natürlich auch nicht tatenlos dabei zu, wie wir unsere Mission erfüllen. Und der alles andere als niedrige Schwierigkeitsgrad von Perdition's Mouth kommt ja auch nicht von ungefähr. Nach der Heldenphase kommt daher immer die Monsterphase.
Jetzt gibt's Haue
Auch den Monstern wurde eine Scheibe spendiert – der „Enemy Watchstone”. Hier sind drei unterschiedliche Aktionen jeweils mehrmals aufgedruckt: Spawn, Bewegung und Angriff. Respektive führen diese Aktionen dazu, dass mehr Gegner auf uns zukommen (Spawn), alle Gegner sich nach fixen Regeln bewegen oder Helden in Reichweite angreifen. Hier sind die Aktionen simpel gehalten, was auch gut ist, da wir gerade in späteren Missionen mit recht vielen Gegnern hantieren. Trotzdem bleibt es jeden Zug spannend, da wir nie genau wissen, wie viele Aktionen die Gegner bekommen. Erst zu Beginn der Monsterphase wird eine Karte gezogen, die dann anzeigt, um wie viele Felder sich der Monstermarker auf dem „Enemy Watchstone” weiterbewegt. Jedes Feld, das er dabei überschreitet, wird ausgelöst. So kann es passieren, dass wir etwa zweimal die Runde angegriffen werden oder durch ungünstige Spawns der Kerker auf einmal von Monstern überrannt wird – knifflig!
Die Kampfhandlungen als solche sind dann recht simpel gehalten. Greifen wir an, gehen wir vom Angriffswert unseres Charakters aus. Den können wir dann durch verschiedene Dinge noch verstärken, etwa durch das Ausspielen einer Handkarte als Verstärkung oder durch übrig gebliebene Aktionspunkte. Letztlich zählt nur, dass wir über den Verteidigungswert des Gegners kommen. Ein erfolgreicher Angriff macht immer, außer es wird explizit anders angegeben, genau einen Schaden – nicht mehr. Das macht auch noch verhältnismäßig kleine Gegner zu Herausforderungen!
Cthulhu lässt grüßen
Es ist eine Weile her, dass ich einem Spiel einen eigenen Absatz für das Spielmaterial geschrieben habe. Hier kann ich nicht anders: Artwork, Miniaturendesign und Illustrationen sind derartig gut gelungen, dass ich mich wie ein Kind zu Weihnachten gefreut habe, als ich die riesige Box zum ersten Mal geöffnet habe! Unsere Widersacher lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Kultisten und Insektoiden. Beide sind überzeugend designt, vor allem die Insektoiden würden H.P. Lovecraft vor Neid erblassen lassen (wenn er nicht ohnehin schon ziemlich blass wäre). Auch die haptische Qualität überzeugt auf ganzer Linie – Dark Fantasy par excellence! Zusätzlich hat der Verlag angekündigt, eine Malanleitung herauszugeben, um den standardmäßig unbemalten Figuren noch mehr Leben einhauchen zu können. Summa summarum Grund genug für uns, einen SEPP für Epik zu vergeben.
Fazit
Vorweg: Die Einstiegshürde zu Perdition's Mouth ist nicht groß, sie ist gigantisch. Die über 40 Seiten Regeln sind zwar gut strukturiert, aber eben doch einfach viel. Wer nicht auf Vorkenntnisse mit vergleichbaren Spielen zurückgreifen kann, sollte sich erst mal an etwas „leichtem” wie dem Klassiker Descent oder Star Wars: Imperial Assault versuchen. Und wer nicht bereit ist, ein paar Stunden ins Regelstudium und ins Verinnerlichen derselben zu stecken, kann Perdition's Mouth getrost von der gedanklichen Wunschliste streichen. Wer das zeitliche Opfer in Kauf nimmt, kommt aber auf seine Kosten.
Perdition's Mouth spielt sich gänzlich anders als jeder mir bekannte Dungeoncrawler. Der Zugmechanismus rund um den Schicksalsstein ist einzigartig, am Anfang extrem gewöhnungsbedürftig, auch später noch fordernd, aber trotzdem der größte Pluspunkt des Spiels. Dadurch, dass es nur sehr wenige „pure” Aktionsmöglichkeiten gibt, in einer Aktion also fast immer mehrere Spielelemente verpflichtend gekoppelt werden müssen (z.B. Bewegung - Angriff), braucht die Zugplanung viel Zeit. Umso erfreulicher ist es dann dafür, wenn eine Runde aufgeht. Das Spielmaterial ist top verarbeitet und Illustration und Design tun das ihrige dazu, um eine großartige Atmosphäre zu schaffen. Außerdem gefällt mir der kreative, neuartige Ansatz, mit dem die Designer an die Regeln herangetreten sind – Innovation wird belohnt!
Das überbordende Regelwerk sorgt allerdings auch für Abzüge. Dass ein Dungeoncrawler nicht simpel wird, ist absehbar. Auch die bereits erwähnten 40 Seiten Regelwerk schrecken erst mal nicht ab, die gibt es z.B. bei Runewars auch. Im Spiel selbst ist dann trotzdem auf viel zu viel zu achten, um immer alles im Kopf zu haben. Der Haken sind hier die unglaublich vielen kleinen Sonderregeln. Sei es etwas basales wie eine Aktion oder etwas recht spezifisches wie das Terrain, kaum ein Spielelement kommt gänzlich ohne neue Kniffe aus. Das macht das große Ganze unübersichtlich, auch im fünften Abenteuer müssen wir noch nachschlagen. Ein wenig Entschlackung wäre hier wirklich SEHR sinnvoll gewesen.
Gut gefällt uns, wie die Autoren ein Problem angehen, an dem fast jeder Dungeoncrawler krankt, bei dem der Dungeon bzw. das Böse NICHT durch einen Spieler kontrolliert wird: Oft ist der Weg zum Ziel vorhersehbar. Nicht so hier. Zu keinem Zeitpunkt können wir genau ausrechnen, welcher Gegner wann was wie machen wird. Wir haben zwar immer eine grobe Idee, trotzdem spielt der Zufall in einem akzeptablen Rahmen eine Rolle. Insgesamt reicht diese Herangehensweise zwar nicht an die Abwechslung, Unvorhersehbarkeit und damit zusammenhängend auch die Spannung heran, die ein leiblicher Gegenspieler mit sich bringt, aber sie kommt denkbar nah heran!
Eine kleine Warnung nochmal für die „Nur-Fazit-Leser”: Perdition's Mouth gibt es bis auf weiteres nur auf Englisch! Um das Regelwerk zu verstehen und ein flüssiges Spiel zu ermöglichen, sollten ausgezeichnete Sprachkenntnisse mitgenommen werden.
Am Ende des Tages und nach dem längsten Fazit meiner Spieletester-Karriere stehen wir vor einem Spiel, in dem unglaublich viel Innovation steckt. Innovation ist super, aber unglaublich viel war hier zu viel. Ein wenig regelbefreiter hätte es Perdition's Mouth möglicherweise in die Top Liga geschafft. Aber auch so vergeben wir 8 Punkte für eine spannende Spielerfahrung, neue Ansätze und passend alptraumartige Illustrationen und Miniaturen. Zeit, die Schrecken dahin zurück zu schicken, wo sie herkommen – in die Tiefen des Abyssal Rift. Into Perdition's Mouth!
Beckikaze | 06.01.2017
Super Rezi. Tolles Spiel, das sofort zu meinem Spiel des Jahres 2016 wurde.
Hoffen wir, dass es mit den beiden nächsten Ablegern der Serie ebenfalls erfolgreich weiter geht. :)
Thomas | 03.01.2017
Danke für die Review! Ich wollte nur erwähnen, dass man eine offizielle deutsche Übersetzung der Regeln als PDF bei Boardgamegeek finden kann:
https://boardgamegeek.com/filepage/138486/german-version-rules
Redaktionelle Wertung:
Spieleranzahl: 1 bis 6
Alter: ab 10 Jahren
Spieldauer: 60 bis 180 Minuten
Preis: 110 Euro
Erscheinungsjahr: 2016
Verlag: Dragon Dawn Productions
Autor: Kevin Wilson, Ren Multamäki, Thomas Klausner
Grafiker: Jamie Noble-Frier, Jere Kasanen, Juha Salmijärvi, Matthias Catrein, Tanja Ylitalo
Spieleserie: Perdition's Mouth
Genre: Denken, Rollenbrettspiel, Strategie, Taktik
Zubehör:
ALLGEMEIN:
1 Regelbuch
1 Schicksalsstein
1 Enemy Watchstone
1 Regelreferenz
1 Kultistenreferenz
1 Insektoidenreferenz
4 doppelseitige Kartenteile
20 Seiten zum „Speichern” einer Kampagne
21 Szenarien in einer Box
HELDEN:
6 Miniaturen
6 Heldenbögen
6 Heldenmarker
6 Lebenspunkt-Marker
72 Karten (12 pro Held)
FEINDE:
7 Akolythen
5 Wächter
5 Beschwörer
3 Insektoiden-Nester
5 Rotikkas
5 Knochenwürmer
5 Chi'leens
1 Tharnix
1 Dämon
KARTEN:
42 Response-Karten
36 Wundenkarten
17 Victim Hero-Karten
17 Victim Response-Karten
29 Schatzkarten
MARKER:
1 Segen
1 „Schwächster Held”-Marker
4 Spawn Pool-Marker
2 Enemy Watchstone-Marker
3 Türen
3 Fallgatter
3 Schatztruhen
3 Opfer
3 Hebel
1 Ausgang für Opfer
1 Ausgang für Akolythen
2 Steinmauern
2 Schutt-Marker
1 Nebel
12 Ausdauer
12 Verteidigung
12 Wunden